Ein Kühlschrank für alle: wie Madame Frigo gegen Food-Waste in Privathaushalten vorgeht und Zürcherinnen und Zürcher zum Teilen von Esswaren animiert

In der Stadt Zürich stehen zwei Gemeinschaftskühlschränke, die von Privaten rund um die Uhr sowohl gefüllt als auch geplündert werden dürfen. Besser als in der Stadt funktioniert das Prinzip des Gebens und Nehmens allerdings am linken Zürichseeufer, wo es zwei ähnliche Initiativen gegen Lebensmittelverschwendung gibt.

Lena Schenkel
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Madame Frigo expandierte kürzlich in der Stadt Zürich. Neu steht auch in Altstetten beim Vulkanplatz ein öffentlicher Kühlschrank.

Madame Frigo expandierte kürzlich in der Stadt Zürich. Neu steht auch in Altstetten beim Vulkanplatz ein öffentlicher Kühlschrank.

Annick Ramp / NZZ

Was tun mit den am nächsten Tag ablaufenden Eiern, die eigentlich fürs Frühstücksrührei gedacht waren, das nun einer spontanen Brunch-Einladung zum Opfer fällt? Oder den drei Bananen und den beiden Joghurtbechern, die man nicht mit in die Skiferien nehmen mag? Wegwerfen will man die Lebensmittel eigentlich nicht – aber auch nicht unbedingt bei sämtlichen Nachbarn klingeln.

Für dieses Problem bietet Madame Frigo eine Lösung: Unter dem Motto «Teller statt Tonne» hat der gemeinnützige Verein an mittlerweile 25 Standorten in der Schweiz öffentliche Kühlschränke aufgestellt. Hier können Private, aber auch Gastronomie- oder Detailhandelsbetriebe noch geniessbare Lebensmittel deponieren, woran sich wiederum jede und jeder bedienen darf. Die Geräte stehen rund um die Uhr zur Verfügung; betrieben und geputzt werden sie von freiwilligen sogenannten Kühlschrankgotten und -göttis.

In der Stadt Zürich steht «Frau Kühlschrank» im schicken silbernen Metallgewand seit dem Sommer beim Hubertus in Wiedikon und seit Ende Oktober auch beim Vulkanplatz in Altstetten. Im Kühlbereich können ganze Gemüse oder verschlossene Lebensmittelprodukte zwischengelagert werden. Deren Mindesthaltbarkeitsdatum darf überschritten sein, nicht aber das Verbrauchsdatum. Darüber finden in einem ungekühlten Fach Brot oder trocken zu Lagerndes wie Früchte, Nüsse oder Guetzli Platz.

Städter nehmen eher, statt zu geben

In Altstetten ist das Gerät bei unserem Besuch gut gefüllt mit Gemüse in blauen Plastiktragtaschen: Kohlrabi, Rüebli und Pastinaken lagern neben nicht mehr ganz taufrischem Stangensellerie. Wer es hier deponiert hat, ist den Betreibern des benachbarten Bistros «Buvette», die dem Kühlschrank Platz, Strom und regelmässiges «Futter» bieten, nicht bekannt. Manchmal hinterliessen externe Caterer, die Anlässe auf dem Areal belieferten, übrig gebliebene Esswaren. Privatpersonen brächten dagegen selten etwas vorbei, sagt Geschäftsführer Roger Fleischli. «Es kommen aber regelmässig Menschen, um zu schauen, ob etwas drin ist.»

«Teller statt Tonne» lautet das Motto des Projekts gegen Lebensmittelverschwendung.

«Teller statt Tonne» lautet das Motto des Projekts gegen Lebensmittelverschwendung.

Annick Ramp / NZZ

Auch in Wiedikon präsentiert sich Madame in praller Leibesfülle: Das Brotfach ist voller Sandwiches, in den Seitenfächern reihen sich Vermicelles an Vermicelles, und im Bauch stehen Salatportionen auf langen, eingeschweissten Fleischstücken – die hier eigentlich wegen der hohen Verderblichkeitsgefahr ebenso wenig hineingehören wie Fisch, wie auf der Tür vermerkt ist. Das meiste stammt dem Etikett nach vom Buchmann-Café Hubertus gleich nebenan. Normalerweise sei der Kühlschrank sehr schnell wieder leer, sagt Filialleiter André Schumacher. Dessen Team füllt ihn nach Ladenschluss jeweils mit den übrig gebliebenen Waren. «Viele wissen inzwischen von dem Angebot», erklärt er, «manche warten sogar schon auf uns.»

Nicht so an diesem Silvesterabend. Der junge Mann, der kurz nach Ladenschluss die Kühlschranktür öffnet, hat schon vom Projekt gehört, ist heute aber rein zufällig mit Frau und Kind daran vorbeigekommen. Nun packen sie einige Mitbringsel für eine Party ein, zu der sie gerade unterwegs sind. Auch hier «füttern» Private den Kühlschrank nur selten. Aussortieren oder wegwerfen muss Frigo-Götti Schumacher deshalb kaum etwas, vielleicht mal einen bereits schrumpelig hineingelegten Salat. Er habe auch schon Kosmetika oder andere Gebrauchsartikel im Brotfach vorgefunden, aber darin belassen. «Auch die gingen weg wie warme Weggli.»

Deponiert werden dürfen Obst, Gemüse, Brot (im Brotfach), nichtalkoholische Getränke sowie verschlossene Produkte, die das Mindesthaltbarkeitsdatum – nicht aber das Verbrauchsdatum –erreicht haben. Nicht erwünscht sind Fleisch und Fisch, Alkohol und gekochte Lebensmittel sowie bereits geöffnete Produkte. Haftung für die Produkte übernehmen Betreiber und Verein nicht.

Deponiert werden dürfen Obst, Gemüse, Brot (im Brotfach), nichtalkoholische Getränke sowie verschlossene Produkte, die das Mindesthaltbarkeitsdatum – nicht aber das Verbrauchsdatum –erreicht haben. Nicht erwünscht sind Fleisch und Fisch, Alkohol und gekochte Lebensmittel sowie bereits geöffnete Produkte. Haftung für die Produkte übernehmen Betreiber und Verein nicht.

Annick Ramp / NZZ

Nur Symptombekämpfung

Für Buchmann ist der Kühlschrank vor der Ladentür deshalb ideal, weil die Waren innert kürzester Frist, ohne lange Transportwege und ohne Unterbruch der Kühlkette potenzielle Abnehmer finden. Zwar arbeitet die Bäckerei mit neun Filialen auf Stadtgebiet auch mit der «Ässbar» zusammen, die Brot und Backwaren vom Vortag verkauft. Ihr kann sie jedoch aus lebensmittelregulatorischen Gründen nicht alles abgeben; Produkte mit aufgedrucktem, abgelaufenem Haltbarkeitsdatum etwa. Früher wurde das Übrige deshalb lange an einen Bauern abgegeben, der es seinen Schweinen verfütterte.

Demnächst will Buchmann ein weiteres Gerät bei der Filiale in der Binz platzieren, wie Geschäftsführer Daniel Wehrli sagt. Ob mit oder ohne Patronat von Madame Frigo sei noch offen. In einer idealen Lebensmittelproduktionskette jedoch dürften Waren gar nicht erst übrig bleiben, gibt er zu bedenken: «Zuallererst sollten wir möglichst bedarfsgerecht produzieren, um das Problem bei der Wurzel zu packen.» Manches produziert Buchmann deshalb lokal in den Filialen. Es brauche aber auch ein Umdenken bei der Kundschaft: Wer Lebensmittelverschwendung verhindern wolle, dürfe auch nicht erwarten, dass stets sämtliche Produkte bis Ladenschluss verfügbar seien. Gerade grössere Mengen würden im Idealfall vorbestellt.

Private primär im Fokus

Dass Madame Frigo in Zürich von zwei Gastrounternehmen betrieben wird, ist reiner Zufall. Grundsätzlich können sich alle melden, die einen Kühlschrank bei sich beherbergen wollen. Manche stehen in privaten Gärten oder Hinterhöfen von Firmen – nicht selten «spenden» die Vermieter oder Arbeitgeberinnen der Göttis den Strom für den guten Zweck, wie der Vereinssprecher Lukas Siegfried erklärt.

Die Idee zum Projekt gegen Lebensmittelverschwendung hatten zwei Berner Jurastudentinnen. Eine von ihnen arbeitete nebenbei bei einer Catering-Firma und erschrak über die Unmengen an Lebensmitteln, die nach Anlässen jeweils im Müll landeten, obwohl sie noch geniessbar gewesen wären. Weil jedoch laut Organisationen wie WWF fast die Hälfte von Food-Waste in der Schweiz von Privathaushalten verursacht wird, lancierten die beiden 2014 die Aktion «Bern isst Bern» und platzierten erste öffentliche Kühlschränke in der Stadt. Das Konzept überzeugte auch die Migros, die das Projekt seit 2018 über ihren Förderfonds Engagement finanziell unterstützt. Damit konnte die Idee in andere Landesteile exportiert werden und erhielt einen neuen, überregionalen Namen.

Von Nachbar zu Nachbar

Ähnliche Projekte gibt es seit letztem Jahr auch am linken Zürichseeufer. In Horgen stehen auf Initiative des Vereins Dorfchärn bereits drei Gemeinschaftskühlschränke. Anders als bei Madame Frigo in der Stadt Zürich dürfen dort auch Fisch und Fleisch sowie bereits angebrochene Waren und gekochte Speisen – gut verschlossen und mit Datum versehen – deponiert werden. Diese Möglichkeit nutzten auch einige lokale Restaurants, erklärt Projektleiter Michael Fries. In erster Linie sind es jedoch Private aus der Umgebung, die geben und nehmen – auf eigene Verantwortung: Der Verein übernimmt keine Haftung für die Inhalte, darauf wird auf jedem Kühlschrank per Aufkleber hingewiesen. «Wir wollten so wenig Vorschriften wie möglich machen», sagt Fries.

Viele, aber nicht alle Nutzerinnen und Nutzer haben sich per Whatsapp-Chat organisiert und übermitteln dort oder auf der Internetplattform Facebook jeweils ein Bild, wenn wieder etwas Neues hineingelegt wurde. Dass die Quartierbewohner rund um die Kühlschränke miteinander kommunizieren und in Kontakt treten, ist eines der Vereinsziele, wie Vorstandsmitglied Fries erklärt. Man will Räume schaffen, in denen sich die Dorfgemeinschaft begegnen und den öffentlichen Raum mitgestalten kann – «damit Horgen nicht zur Wohn- und Schlafgemeinde verkommt». Der Verein hat schon andere Sharing-Ideen umgesetzt, wie eine Tauschkabine am Bahnhof für nicht mehr benötigte, aber noch brauchbare Dinge wie gültige Billette.

In der Nachbargemeinde Wädenswil wiederum waren es Studentinnen und Studenten der ortsansässigen Fachhochschule ZHAW, die im Rahmen eines Nachhaltigkeitswettbewerbs auf die Idee von Gemeinschaftskühlschränken kamen. Die angehenden Umweltingenieure platzierten ein öffentlich zugängliches, «Fairteiler» genanntes Gerät auf dem Campus und später ein zweites in der Stadt. Sie gründeten den Verein Delikatrestessen und bauten ein Netzwerk von Freiwilligen und Kooperationspartnern auf, um noch geniessbare Lebensmittel aus Privathaushalten, Läden, Supermärkten und Bauernbetrieben einzuspeisen. Dabei arbeiten sie auch mit sozialen Einrichtungen wie «Tischlein deck dich» zusammen.

Bloss ein Haken

Trotz der löblichen Absicht stellt sich einem allerdings auch die Frage, wie nachhaltig diese öffentlichen Kühlschränke in ökologischer Hinsicht sind – zumal die Geräte als Stromfresser und CO2-Schleudern gelten und obendrein oft leer stehen. Dieser Crux ist man sich bei Madame Frigo bewusst, aber auch ihrer Unvermeidbarkeit. Mindern will man den nachteiligen Nebeneffekt mit Geräten der höchsten Energieeffizienzklasse, wie der Verein auf Anfrage mitteilt. In Horgen wird der Kühlschrank winters vom Strom genommen. Dass manche Nutzer mit dem Auto vorführen, um Waren abzuholen, sei natürlich ebenfalls nicht ideal, heisst es dort. Gleichwohl gehe es dem Verein Dorfchärn eben primär um die soziale und erst sekundär um ökologische Nachhaltigkeit.

Rechtlich grenzwertig bis kommerziell:
Initiativen gegen Food-Waste

Neben privaten und gemeinnützigen Projekten wie Madame Frigo, die vor allem die Lebensmittelverschwendung in Privathaushalten eindämmen wollen, gibt es etliche Initiativen gegen Food-Waste in Gastronomie, Detail- und Grosshandel.

Schon lange setzen sich gemeinnützige Organisationen wie die Schweizer Tafel, «Tischlein deck dich» oder die Sozialwerke Pfarrer Sieber in Zürich für eine sinnvolle Verwertung von Lebensmitteln ein und geben diese an Bedürftige ab.

Vor einigen Jahren kam zudem das «Containern» als Bewegung auf: Personen fischen aus Abfallcontainern vor Supermärkten Esswaren, die zwar nicht mehr verkauft werden dürfen, aber noch geniessbar sind. Anders als etwa in Deutschland ist das sogenannte Mülltauchen in der Schweiz rechtlich erlaubt, solange keine Schlösser geknackt oder Absperrungen überwunden werden.

Eher neu ist, dass die Lebensmittel den Endabnehmern nicht einfach abgegeben oder indirekt zur Verfügung gestellt, sondern zu vergünstigten Preisen verkauft werden. So betreibt zum Beispiel die «Ässbar» seit 2013 in mehreren Schweizer Städten Läden mit Backwaren vom Vortag. Seit 2016 ist zudem das dänische Startup Too Good To Go in der Schweiz tätig. Deren Betreiber sammeln Esswaren von Partnern, die sie den Nutzerinnen und Nutzern ihrer App als einzelne Speisen oder Wundertüten weiterverkaufen.

Die Zunahme an Playern wirft indes die Frage auf, ob sich diese nicht gegenseitig konkurrieren; insbesondere die kommerziellen stehen diesbezüglich gegenüber caritativen im Verdacht. Viele arbeiten jedoch zusammen und teilen sich die Lebensmittel auf, denn nicht jede Ware eignet sich für jedes Projekt. So nimmt etwa die Brauerei Oerlikon der «Ässbar» nicht mehr verkäufliches, altes Brot für ihr «Brotbier» ab, und ZüriChips macht daraus Chips. Too Good To Go wiederum weist Partner an, soziale Einrichtungen zu bevorzugen.

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