Big Tech nimmt Versicherungssektor ins Visier: «Würde Amazon eine Autoversicherungs-Police auf seiner Website bewerben, wäre das für die Branche ein Albtraum»

Technologieriesen wie Amazon und Google sammeln Erfahrungen im Versicherungsgeschäft. Wie gross ist die Gefahr für die Assekuranz?

Michael Ferber
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Amerikanische Tech-Riesen wie Amazon haben bereits Erfahrungen im Versicherungssektor gesammelt.

Amerikanische Tech-Riesen wie Amazon haben bereits Erfahrungen im Versicherungssektor gesammelt.

Robert Alexander / Getty

Mit dem Digitalisierungsschub der Corona-Pandemie haben Big-Tech-Konzerne wie Amazon, Apple, Facebook oder Google weiter an Bedeutung gewonnen. In der Krise haben sie bei ihren Kundinnen und Kunden mit robusten Prozessen und Verlässlichkeit gepunktet. «Gerade Jüngere erwarten das Kundenerlebnis, das ihnen Big-Tech-Konzerne bieten, nun auch in anderen Sektoren», sagt Thomas Schneider, Sektorleiter Versicherungen beim Wirtschaftsprüfungs- und Beratungsunternehmen KPMG. Die Technologiekonzerne arbeiteten sich so noch stärker in neue Branchen vor – dies gelte beispielsweise auch für den Versicherungssektor.

Big-Tech-Konzerne gewinnen an Bedeutung

Aufhorchen lässt in diesem Zusammenhang eine Passage aus dem Branchenbericht «World Insurtech Report» des Capgemini Research Institute und des Finanzverbands Efma. Darin heisst es, dass die Bereitschaft von Kundinnen und Kunden, Versicherungsprodukte von Big-Tech-Konzernen zu kaufen, laufend zunehme. Im Zeitraum Januar bis April 2020 sei diese beispielsweise von 36% auf 44% gestiegen, während sie im Jahr 2016 erst bei 16% gelegen habe.

Gleichzeitig gaben laut der Studie 60% der befragten Versicherungen und Insurtech-Firmen an, sie seien interessiert daran, mit Big-Tech-Konzernen zu arbeiten. Die Grenzen zwischen den Technologieriesen und den Unternehmen aus dem Bereich der Assekuranz würden zunehmend verschwimmen, heisst es weiter.

Grosse «Ökosysteme» als Vorteil

«Die Tech-Konzerne verfügen über ein weltumspannendes Netz von Kunden, die relativ leicht zu Versicherungskunden gemacht werden könnten», sagt Werner Schirmer, Analytiker bei der Landesbank Baden-Württemberg (LBBW). Die Technologieriesen könnten sie einfach in ihre bestehenden und weiter wachsenden «Ökosysteme» einbinden.

Wie dies funktionieren könnte, zeigen chinesische Big-Tech-Konzerne wie Alibaba oder Tencent besonders gut. Als Beispiel gilt der zu Tencent gehörende Message-Dienst WeChat. Dessen «Ökosystem» umfasst verschiedene Lebensbereiche der Nutzerinnen und Nutzer. Dazu gehören beispielsweise Kurznachrichten, Online-Shopping, der Zahlungsverkehr – wieso also nicht auch Versicherungen?

Vorstösse von Google und Amazon

Amerikanische Tech-Riesen haben derweil längst Erfahrungen im Versicherungssektor gesammelt – auch wenn diese nicht immer positiv waren. Als Beispiele für Vorstösse von Tech-Konzernen kommen Schirmer vor allem die Vorstösse der Alphabet-Tochter Google in den Sinn. Der kalifornische Technologieriese hat sich etwa an den amerikanischen Insurtech-Unternehmen Oscar Health und Lemonade beteiligt.

Ausserdem hat das Unternehmen unter den Namen «Google Protect» bzw. «Nexus Protect» auch schon zusammen mit Kooperationspartnern Versicherungen angeboten. Unter dem Label «Google Compare» hat Google bereits Vergleichsportale für Autoversicherungen, Kreditkarten und Hypotheken angeboten. Diese seien allerdings 2013 in Frankreich und 2016 in den USA wieder eingestellt worden, sagt Schirmer.

Die besten Chancen, in den Erstversicherungsbereich vorzudringen, sieht der LBBW-Analytiker indessen für Amazon. Seit 2016 biete der Konzern in Kooperation mit Versicherern Garantieverlängerungen für Elektroprodukte an, die bei Amazon gekauft werden («Amazon Protect»). Zudem ist der Tech-Riese an dem indischen Insurtech Acko General Insurance beteiligt. Zu weiteren Plänen im Versicherungssektor machte ein Sprecher des Konzerns keine Angaben.

«Überwiegend Versuchsballons»

Schirmer wertet die bisherigen Vorstösse von Big-Tech-Konzernen im Versicherungsbereich überwiegend als «Versuchsballons». Amazon probiere zwar im Versicherungsbereich Verschiedenes aus, dies wirke aber eher punktuell. «Würde Amazon aber umschwenken und beispielsweise eine Autoversicherungs-Police vorne auf seiner Website bewerben, wäre das für die Versicherungsbranche ein Albtraum», sagt Schirmer. Der Massenmarkt der Autoversicherung gilt in der Branche als Eintritt in den Bereich der Sachversicherung.

Je komplexer die Produkte sind, als desto unwahrscheinlicher gilt derzeit noch ein Markteintritt der Big-Tech-Konzerne. «Technologiekonzerne suchen sich vor allem Branchen mit hohen Margen und einfachen Produkten aus», sagt Schirmer. Zu den einfachen Angeboten der Assekuranz zählt er neben Produktversicherungen auch kurz laufende Versicherungsverträge mit leicht abzuwickelnden Schäden – also etwa Reiserücktritt- oder Rechtsschutzversicherungen.

Als Bereiche, die für ein Eindringen von Big-Tech-Konzernen anfällig wären, sieht der KPMG-Vertreter Schneider alle Produkte für Privatpersonen, beispielsweise Auto- oder Haushaltversicherungen. Im Firmenkundenbereich seien die Produkte hochkomplex und spartenabhängig, hier sei es wohl schwieriger, in den Markt einzudringen.

Im Markt sei eine steigende Bedeutung von Annexversicherungen zu erkennen, sagt Lisa Schaller, Mediensprecherin des Schweizerischen Versicherungsverbands (SVV). Dabei wird beim Kauf eines Nicht-Versicherungs-Produkts auch gleich eine Versicherung abgeschlossen. «Dieser Trend betrifft vor allem kleine Deckungen wie Reiseversicherungen», sagt sie. Mit steigender Bedeutung des digitalen Verkaufs und von Ökosystemen werde dies verstärkt. «Bei umfangreichen Versicherungen, insbesondere Lebensversicherungen, ist der Trend zu Annexversicherungen jedoch nicht zu beobachten und wird auch kaum kurzfristig eintreffen.»

Die Treue der Schweizer Kunden

Hinzu kommt, dass die Schweizer Kunden als wenig wechselwillig gelten. Sie seien traditionell eher träge, schauten nicht zu genau auf die Konditionen und blieben ihren Versicherungsanbietern oft sehr treu, sagt Schneider. Dabei spielten der Wohlstand, aber auch die Loyalität zum entsprechenden Versicherungsagenten eine wichtige Rolle. Letztere Bindung ist oft stärker als diejenige zwischen dem Kunden und der Versicherung, und den Agenten kommt im Schweizer Versicherungsmarkt eine sehr wichtige Rolle zu.

Diese Strukturen könnten nun aber zu einem gewissen Grad aufbrechen. «Jüngere Kundinnen und Kunden ticken anders. Sie sind digital affiner, sie rechnen und vergleichen mehr», sagt Schneider. Dabei spielten auch Vergleichsportale eine Rolle. Mit zunehmendem Wechselwillen könnte auch die Bereitschaft steigen, sich mit Big-Tech-Konzernen einzulassen.

Schneider kann sich auch gut vorstellen, dass es in Zukunft zu mehr Kooperationen zwischen Versicherungen und Big-Tech-Konzernen kommen wird. Die Versicherer könnten darin neben der Kundenbasis ihr Know-how über das Versicherungsgeschäft sowie über Regulierung einbringen. Die Big-Tech-Konzerne punkteten derweil mit ihrem technologischen Wissen, ihrer Erfahrung in der Datenanalyse sowie ihren Marken.

Ein Beispiel für eine solche Kooperation ist die Zusammenarbeit des Insurtech-Unternehmens Next Insurance mit Amazon Business Prime, um KMU mit digitalen Versicherungen zu beliefern. Für grosse Aufmerksamkeit habe in Europa die versuchte Beteiligung von Tencent an Swiss Re gesorgt, sagt Schirmer. Tencent dürfte dabei vor allem ein Auge auf die Risikotragfähigkeit und die Datenhistorie des Schweizer Rückversicherers geworfen haben.

«In der Schweiz bieten keine Big-Tech-Unternehmen eigene Versicherungen an», sagt Schaller. Wäre dem so, hätten die klassischen Versicherer gegenüber Big-Tech-Konzernen den grossen Vorteil, dass sie ein breiteres Produktangebot haben und verschiedene Versicherungslösungen aus einer Hand anbieten. «Zudem verfügen die Versicherungsgesellschaften über ein breites Fachwissen, das ihnen persönliche und massgeschneiderte Beratungen ermöglicht.»

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