Auf den ersten Blick mag das schön erscheinen in dieser Vorweihnachtszeit, wo es draußen so kalt und virusverhangen zugeht: Schaut nur, mag man sagen wie mit Blick auf den Weihnachtsstern, da sind welche, die uns nicht verlassen, uns sind Retter geboren, und sie heißen Michelin, McDonald's, Kaufland, Douglas.

"Und jetzt alle!" heißt die gemeinschaftliche Werbeaktion von rund 200 in Deutschland tätigen Unternehmen. Gemeint ist das Impfen. Die Kampagne soll einen wichtigen Beitrag dazu leisten, dass die restlichen Ungeimpften geknackt werden. Freut euch, ihr Kinder, ihr Männer und Frau'n!

Wobei: Moment, echt jetzt? Ist es am Ende Werbung, die dafür sorgen wird, dass sich etliche doch noch entschließen? Stehen da Männer und Frauen vor Lidl und denken: "Super, nächste Woche günstiger Kaffee und bunte Bettwäsche, und, ach stimmt, impfen lassen sollte ich mich auch?"

Nach allem, was man über die Menschen liest, die sich mehr als 20 Monate nach Ausbruch der Pandemie noch nicht haben impfen lassen, obwohl sie es könnten, tun sie dies nicht, weil sie noch nie davon gehört hätten. Sie haben sehr persönliche Bedenken, die mehr oder weniger rational sind. Burger King, Edeka und Porsche bieten nun aber nicht Aufklärungsabende oder Infostände mit unabhängiger Einzelberatung durch geschultes Personal an, das sich die Zeit nähme, persönliche Bedenken zu beseitigen, weil Diabetes mit 59 Jahren eben doch keine schwerwiegende Kontraindikation ist, selbst dann nicht, wenn man akut Arthrose hat oder eine Allergie gegen Birkenpollen.

Natürlich nicht. Die rund 200 Unternehmen rufen auf. Sie appellieren für etwas, wofür wohl jeder Mensch, der den Sinn des Impfens erfasst hat, sich in seinem privaten Umfeld einsetzt. Die Firmen stellen ihr Gutsein demonstrativ und völlig risikolos ins Schaufenster oder Netz. Die Mehrheit der Deutschen stimmt dem Impfen schließlich zu. Prima, wenn das nun auch mit dem eigenen Markennamen assoziiert wird. Das Amerikanische verfügt dafür über den treffenden Begriff Virtue Signalling – das Zurschaustellen moralischer Korrektheit.

Nun bringen akute Notlagen neben einer Notstandsrhetorik auch ein Notstandsdenken hervor, in diesem Fall geht das wohl so: Selbstverständlich ist es ohne Wenn und Aber zu begrüßen, wenn sich soundso viele Menschen tatsächlich aufgrund der Werbekampagne impfen lassen, das Virus am Verbreiten und Mutieren hindern und am Ende einige Menschen weiterleben können und nicht schwer an Covid erkranken oder gar sterben. Auch dieser Text soll daran keinen Zweifel aufkommen lassen.

Wie kommt aber seine Autorin eigentlich auf die verbitterte Idee, dass BMW, Edeka und Nestlé nicht auch das Wohl der Mitmenschen aufrichtig am Herzen liegt, wo doch selbst der neue Kanzler die Kampagne unterstützt? Und dass das vielleicht nicht nur eine kleine Nebenbemerkung im "Alles hilft irgendwie" sein könnte?

Zum einen, weil die Unternehmen kaum glaubhaft vermitteln können, dass es uneigennützig geschieht. Dafür ist das Eigeninteresse gerade von Einzelhändlern und Gastroketten an einer durchgeimpften Gesellschaft viel zu klar erkennbar. Da gibt es keinen Lockdown und keine Kontaktbeschränkungen mehr, können sie endlich wieder einfach nur Geld umsetzen. So aber wird die Haltung heuchlerisch, wofür im Zweifel die jetzt noch Ungeimpften ein besonders feines Gespür haben werden – und zwar nicht nur die Verschwörungsgläubigen, die überall einen sinistren Zusammenhang von Politik, Pharma- und sonstiger Wirtschaft wittern.

Es geht nunmehr um die Unentschlossenen. Damit sie sich entschließen, bräuchte es glaubwürdiges, also konkretes gesellschaftliches Engagement. Genau das gilt es jetzt einzufordern: Unternehmen, ihr wollt den Mitmenschen und der Gesellschaft etwas Gutes tun? Dann fangt doch am einfachsten dort an, wo ihr das am unmittelbarsten könnt: in eurem eigenen Unternehmen. Bezahlt die Menschen fair, gebt ihnen Verträge, mit denen sie ihr Leben planen können, checkt eure Lieferketten, auch wenn es im Ausland etwas umständlich wird. Beteiligt euch gerne an gesellschaftlichen Initiativen, auch wenn dafür nicht so starkes Scheinwerferlicht wie bei der Impfkampagne auf euch fällt. Es gibt ja Beispiele: die Initiative Notinsel etwa, für die Händler gut sichtbar einen Aufkleber an ihre Ladentür kleben, um Kindern und anderen Schutzbedürftigen zu signalisieren: Hier bist du sicher. Dafür dann ein von Herzen kommendes Danke. Solange Fragen und Probleme jedoch weiterhin übergangen, überspielt, vernachlässigt werden, bleibt ein zur Schau gestelltes Interesse am Impffortschritt in Analogie zum Greenwashing so etwas wie "Vaxx-Washing".

Zum anderen kommt ein Unwohlsein hinzu, das noch schwerer wiegt. Die Werbeaktion "Und jetzt alle!" ist eben nicht so egal wie die jüngste Mode, jeden Kamillentee als Lifestyle-Value zu verpacken, indem man ihn "Gib auf dich acht!" nennt. Hier verbreiten Firmen – hübsch auf Plakate gedruckt oder gepostet – moralische Werte in Form einer persönlichen Aufforderung zu einem medizinischen Vorgang. Es gibt aber Gründe, Appelle aus der Wirtschaft, mit dem eigenen Körper der Gesellschaft zu dienen, grundsätzlich kritisch zu hinterfragen: Wer möchte, dass der halbwüchsige Sohn beim Bäcker mit der Brezel auch die Aufforderung herübergereicht bekommt, seinem Land zu dienen? Oder dass einem die Versicherung die regelmäßige Einnahme eines Medikaments empfiehlt, weil man an dieser oder jener chronischen Krankheit leidet?

Gesundheit, bürgerliche Verantwortung – keine verwerflichen Angelegenheiten. Für beides möchte man sich jedoch auch künftig lieber von kompetenter Seite informieren und beraten lassen. Vor allem: unabhängig.

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