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Zur letzten Folge der "Lindenstraße" Wo Tabus leichter brachen als Butterkekse

Politisches Fernsehen mit den Mitteln der fiktionalen Unterhaltung: Die "Lindenstraße" hat die verklemmte, enge Bundesrepublik freier gemacht. Nun heißt es Abschiednehmen.
Eine Würdigung von Nils Minkmar
"Lindenstraße"-Szene aus dem Jahr 2002 mit den Schauspielerinnen Marie-Luise Marjan und Annemarie Wendl

"Lindenstraße"-Szene aus dem Jahr 2002 mit den Schauspielerinnen Marie-Luise Marjan und Annemarie Wendl

Foto:

WDR/ Eckbert Reinhardt

Die erste Folge der "Lindenstraße" wurde am 8. Dezember 1985 ausgestrahlt und war die kulturelle Antwort auf Helmut Kohls "geistig-moralische Wende". Mit diesem Begriff hatte der Bundeskanzler faktisch eine Neubegründung des Konservatismus in der Bundesrepublik versprochen, einen Kontrapunkt zur empfundenen Dominanz der 68er und sonstigen Linksliberalen in Schulen und kulturellen Einrichtungen.

Insbesondere die unter seiner Ägide betriebene Etablierung des Privatfernsehens wurde von vielen als Landgewinn der Konservativen im Kulturkampf gewertet, Unternehmer wie Silvio Berlusconi und Leo Kirch wurden zu Symbolen des Rollbacks gegen aufklärerisches, ja linkes Fernsehen.

Ein militantes Projekt

Die sonntägliche WDR-Serie war in diesem Sinne ein militantes Projekt: Statt wie in den die frühen Achtzigerjahren so prägenden Serien "Dallas" und "Denver-Clan" die amoralischen Umtriebe einer imaginierten Clique von aus heutiger Sicht beurteilt nur mäßig wohlhabenden Menschen darzustellen, waren am Sonntag radikale Normalos zu bestaunen. Hier ging man nicht in den Countryklub, sondern zum Griechen an der Ecke, und das krasseste Kraftfahrzeug war der Bus. Das Konzept war von einer an Frechheit grenzenden Kühnheit: Exzellente Schauspielerinnen und Schauspieler, die zuvor kaum jemand kannte, bilden in einer Kölner Kulisse, die München darstellen soll, eine Republik ab, die zugleich realistisch ist und weit besser als das Original. Bis dato vertraute das Fernsehen in der Serie auf das Versprechen ferner Landschaften und schöner Menschen, hier aber wurde dem Publikum Alltag in heftigster Konzentration zugemutet.

"Leitkultur hier war Diversität, man war woke durch und durch - längst bevor es den Begriff gab und in keiner einzigen Folge wurde je behauptet, die Welt sei in Ordnung."

Vergesst Bergpanorama und Hubschrauber, vergesst Sascha Hehn und Uschi Glas, hier freut ihr euch über eine Briefkastenkulisse und einen Streit im Flur, der womöglich in Dialekt ausgetragen oder sogar in einer Fremdsprache, denn fortan wurde in Fernsehdeutschland auch mal Griechisch und Türkisch geredet.

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Power-Talk im Treppenhaus

Foto: WDR/ Eckbert Reinhardt

In der frühen Lindenstraße wurde Westdeutschland treffend abgebildet. Helmut Kohl sagte damals, die Deutschen seien "heute ein Volk, das sein Glück im Privaten sucht". Die Lindenstraße entwickelte diesen Gedanken zu neuer Komplexität: Das dort zu bestaunende Privatleben nahm den französischen Schriftsteller Michel Houellebecq vorweg, es war die "Ausweitung der Kampfzone". In den radikal biederen Kulissen wurde betrogen, intrigiert, gemordet und geliebt wie bei Shakespeare, den ein entfesselter Fassbinder inszeniert hätte.

Zweifel erwünscht

Das Publikum wurde gut unterhalten, aber auch in urdeutschem, ja faustischem Zweifel in den Sonntagabend entlassen. Mittel dazu waren Dialoge, in denen gern die Absicht die Plausibilität übertrumpfte und längere Exkurse über wissens- und beklagenswerte Missstände unserer Welt in den alltäglichen Austausch im Mietshaus eingeflochten wurden: Grüß Gott - also was da in Brasilien mit den Ureinwohnern geschieht, vehement betrieben auch von der deutschen Firma sowieso, der alle mal eine Protestpostkarte schicken könnten...

"Lindenstraße" war politisches Fernsehen mit den Mitteln der fiktionalen Unterhaltung. Die Leitkultur hier war Diversität, man war woke durch und durch - längst bevor es den Begriff gab, und in keiner einzigen Folge wurde je behauptet, die Welt sei in Ordnung.

Mühen und Kosten wurden nicht gespart, und das merkte man der Sendung an. Ihr Schöpfer und spiritus rector Hans W. Geißendörfer kam vom deutschen Film, übertrug dessen legendäre Sorgfalt und tiefe Ernsthaftigkeit auf diese Produktion und ging hiermit ein gewaltiges Risiko ein, denn damals rangierten Fernsehserien von ihrer Reputation her irgendwo zwischen Fix-und-Foxi-Heftchen, Ratesendungen und Schulmädchen-Sexfilmen.

Das Genre der Serie changierte zwischen billigen täglichen Soaps mit ihren Geschichten von Doppelgängern und vertauschten Kindern und ironischen amerikanischen Krimis. Ein überschaubares Angebot, in dem eine wöchentliche Familien- und Nachbarschaftsserie ohne Stars, Sex oder Mord eine völlige Novität darstellte. Zumal eine, die sich in jeder Hinsicht uncool gab und noch stolz darauf war.

Sehnsucht nach einer vergangenen Zukunft

Als bewusste Affirmation des Geistes von 68 in einer Epoche, die ihn völlig zurückdrängen wollte, war die "Lindenstraße" schon bei ihrem Beginn ein nostalgisches Projekt, das die Gegenwart im Lichte einer besseren Vergangenheit betrachtete, einer Sehnsucht nach vergangenen Zukunftsmöglichkeiten. In den Häusern, Läden und im Restaurant Akropolis wohnte von Beginn an eine sanfte Melancholie, aus deren Betrachtung aber Zuversicht gewonnen werden konnte. All die Millionen "Lindenstraße"-Zuschauer, die vielen treuen Fans waren vorbereitet auf fallende Masken und einstürzende Fassaden.

Die Bundeskanzlerin jedenfalls könnte ohne Maske und Drehbuch dort einziehen, ihr liberaler Pragmatismus mit moralischem Anspruch ist reinste Lindi-Ideologie.

Tabus brachen hier leichter als Butterkekse. Happy End, das sorgenfreie Leben durch das große Geld oder die Ausmerzung des Bösen durch tapfere Ermittler - übliche Erlösungsversprechen der Fernsehunterhaltung wurden ersatzlos gestrichen, gefeiert wurde das Drüber reden, die Freude an der improvisierten Geselligkeit, an Freundschaft und Nachbarschaft. Auf Erden schon das Himmelreich zu finden, diese Kunst konnte man hier studieren, und auch, sich einzurichten in der zivilen Idylle der alten Bundesrepublik.

Und irgendwie hat das funktioniert: Wenn man sich die Bundesrepublik von 1985 betrachtet, als Homosexuelle gut beraten waren, sich zu verstecken, viele Familien unter Sprachlosigkeit und Heuchelei litten und die politische Polarisierung der Gesellschaft so selbstverständlich war wie die Geografie des Landes - von damals aus betrachtet sind wir heute alle die "Lindenstraße". Die Bundeskanzlerin jedenfalls könnte ohne Maske und Drehbuch dort einziehen, ihr liberaler Pragmatismus mit moralischem Anspruch ist reinste Lindi-Ideologie.

Nicht alle kommen viel zum Lesen oder haben die Möglichkeit, lange zur Schule zu gehen. Fernsehserien prägen die Gesellschaft tiefer und subtiler als manche literarischen oder theoretischen Meisterwerke, wenn sie mit dem Zeitgeist in Verbindung stehen. In der "Lindenstraße" war das so, es ging dort um die großen Fragen der Zeit, und heute ist die Utopie, die damals propagiert und mit so viel Einsatz, so viel Talent dargestellt wurde, das normale Leben.

Man darf darüber staunen, dass solch ein Projekt so lange funktioniert hat, weit länger, als es üblich ist und zu erwarten gewesen wäre. Irgendwann war die ursprüngliche Mission erfüllt, die Welt vielleicht nicht besser, aber offener. Die "Lindenstraße" hatte schon lange ihre Flughöhe erreicht und konnte zufrieden das größer gewordene Land unter sich betrachten, schöner und freier.

Darüber zu klagen, dass die Serie nach fast 35 Jahren ein Ende findet, ist vonseiten der an ihr Beteiligten verständlich, aber es darf nicht das Urteil darüber trüben, welch einmaliger Erfolg sie ist und welchen Ruhm denjenigen gebührt, die dort gearbeitet haben. Alles hat seine Zeit. Die mit der "Lindenstraße" war gut.

Die letzte Folge der "Lindenstraße" läuft am 29. März um 18.50 Uhr in der ARD.